Die Bergstürze vom Tschirgant und Haiming

Beim folgenden Text handelt es sich um eine vereinfachte Zusammenfassung der Diplomarbeit "Die Bergstürze vom Tschirgant und von Haiming - Bewusstsein der Bevölkerung, Präsenz und Implementierung im Unterricht" (Institut für Geographie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck) von Lisa Kopp, ergänzt um weitere Erkenntnisse. Vielen Dank an Lisa Kopp für die Bereitstellung ihrer Unterlagen! Ein ausführlicher Auszug ihrer Arbeit steht am Ende dieser Seite zum Download bereit.

Gewaltige Naturereignisse mit prägender Wirkung

 

Warum liegen Gebiete oberhalb der Feuerwehrhalle in Haiming höher als beispielsweise die Ortsteile Dorf oder Steigge? Sicherlich haben auch schon viele einen Spaziergang durch das Forchet über den Bachingerweg oder von Ötztal-Bahnhof über das Wassertal zur Area 47 unternommen. Warum befindet sich in diesem Bereich des Inntals ein Föhrenwald?

 

Die Antwort auf beide Fragen liefern die Bergstürze vom Tschirgant und von Haiming, die sich beide vor etwa 3.000 Jahren ereigneten und so dem Talbereich des heutigen Gebiets von Haiming und Ötztal-Bahnhof seine landschaftliche Form gaben.

 

Bevor näher auf den Tschirgantbergsturz als größeres der beiden Ereignisse eingegangen werden kann, muss der Begriff „Bergsturz“ erklärt werden. Dabei handelt es sich nämlich nicht, wie manchmal missverstanden, um einen ganzen Berg, der stürzt, sondern um eine sehr schnelle Bewegung von Bergmaterial, also von Felsen und Schutt, das von einem Berg abbricht. Man könnte jetzt denken, dass solche Ereignisse in Tirol häufig vorkommen, wie zum Beispiel in den vergangenen Jahren im Valsertal, in Fließ oder in Ladis (2017 und 2018). Der große Unterschied zwischen diesen erst kürzlich geschehenen Ereignissen und dem Tschirgantbergsturz liegt im Ausmaß der abgebrochenen und abgelagerten Mengen an Blöcken, Felsen und Schutt.

 

Der gigantische Tschirgantbergsturz
200 – 250 Millionen Kubikmeter

Der Bergsturz vom Tschirgant gilt als einer der größten Bergstürze der Nördlichen Kalkalpen. Mit einem Volumen von 200 bis 250 Millionen Kubikmetern an Material, das von der Weißwand abgebrochen ist und im Talboden auf einem Ablagerungsgebiet von rund 13 km² abgelagert wurde, übersteigt er jegliche Vorstellungskraft. Zum Größenordnungsvergleich soll folgendes Beispiel dienen: Ein Becken mit einer Länge von 1.000 Metern, einer Breite von 1.000 Metern und einer Tiefe von einem Meter ist bis zum Rand hin mit unterschiedlich großem Gesteinsmaterial aus Kalkstein gefüllt. Dieses Volumen entspricht „lediglich“ einer Million Kubikmeter – das 200 bis 250-fache davon ist wissenschaftlichen Annahmen zufolge beim Tschirgantbergsturz in wenigen Sekunden ins Tal gestürzt. Auch heute noch zeugt das eindrucksvolle Abbruchgebiet in der Weißwand oberhalb von Roppen von diesem Ereignis.

 

Der Bergsturz von Haiming

Etwa 300 bis 500 Jahre nach dem Tschirgantbergsturz kam es zu einem zweiten Ereignis, dem Haiminger Bergsturz. Mit einem Volumen von geschätzten 37 bis 55 Mio. m³ hat dieser zwar deutlich kleinere Ausmaße als der Tschirgantbergsturz, dennoch hatte auch er maßgebliche Auswirkungen auf unsere Gemeinde. Die Abbruchstelle dieses Sturzes liegt unterhalb der Haiminger Alm, etwa auf der Höhe der Schottergrube Nagele. Der Haiminger Bergsturz erfasste das Gebiet um das Umspannwerk und den Forchet mit der Siedlung südwestlich von Haiming. Die Umhohler Höhe dürfte ein Überbleibsel dieses Bergsturzes sein, aber auch die Haiminger Pfarrkirche steht noch am östlichen Rand des Schuttkegels.

Über die Ursachen

Als Auslöser für den gigantischen Tschirgantbergsturz gilt laut derzeitigem Wissensstand eine Kombination mehrerer Faktoren, wie Klüfte im Hang sowie eine instabile Gesteinsschicht am Hangfuß, die den Bewegungsprozess der kalkigen Sturzmassen begünstigte oder auch der Gletscherrückgang und der damit fehlende Gegendruck. Vor rund 20.000 Jahren herrschte bei uns die Würm-Eiszeit. Während dieser war der heutige Talboden mit einer rund tausend Meter dicken Eisschicht bedeckt. Die riesigen Gletscher aus dem Engadin und dem Ötztal drückten von Westen und Süden her gegen den Tschirgant. Mit dem Ende der Eiszeit schmolzen die Gletscher und der Tschirgant verlor sein „Stützkorsett“.

 

Endgültiger Auslöser des Tschirgant-Bergsturzes könnte dann möglicherweise ein Erdbeben gewesen sein, das den Bergsturzmassen quasi den letzten Anstoß gab. Möglicherweise gibt es sogar einen Zusammenhang mit dem Untergang der minoischen Kultur auf Kreta, die 1.650 v. Chr. durch eine gigantische Flutwelle – ausgelöst durch Erdbeben und den Vulkanausbruch auf Santorin, zerstört wurde.

 

Die Bergsturzmassen breiteten sich fächerförmig im Tal aus und gelangten bis in die Ötztalmündung vor das heutige Sautens und schafften damit die Formen der Landschaft im Umgebungsbereich der heutigen Ötztaler Höhe. Es ist nicht erwiesen, dass bei den Bergstürzen auch Personen zu Schaden gekommen sind, ausgeschlossen werden kann es aber auch nicht.

 

Die Ötztaler Ache und der Inn, zunächst von den Bergsturzmassen in diesem Gebiet verschüttet und teilweise aufgestaut, suchten sich im Laufe der Zeit ihren Weg durch das Felsmaterial und fanden so schließlich ihr Flussbett, wie wir es heute kennen. Durch die Bergstürze entstand zunächst eine chaotische Felsblocklandschaft, kahl und unfruchtbar. Inzwischen sind die Geröllmassen längst überwachsen.

 

Warum der Forchet bei uns wächst

Zurück zu den Ausgangsfragen: Einige Teile unseres Gemeindegebiets liegen also höher als andere, da sie sich auf Bergsturzmaterial befinden. Aber warum siedelten sich auf diesem Bergsturzablagerungsgebiet Föhren und weitere Vegetationsformen an, die besonders trockene Standorte lieben? Der Grund dafür liegt wiederum im kalkigen Gesteinsmaterial im Untergrund, auf dem sich seit dem Bergsturz nur ein geringer Bodenaufbau entwickelt hat und damit besonders trockenheitsresistente Pflanzen beheimatet.

 

Wie gut weiß die Haiminger Bevölkerung Bescheid?

Im Rahmen ihrer Diplomarbeit über den Tschirgant Bergsturz holte Lisa Kopp auch Meinungen und Einschätzungen einiger Haiminger Bürgerinnen und Bürger zur Thematik ein. Mit den ca. 100 Befragten sind die Ergebnisse der Umfragen zwar nicht repräsentativ und verallgemeinerbar, dennoch liefern sie einen Eindruck über die Kenntnisse und Risikowahrnehmungen der Bevölkerung.

 

Die kleine Umfrage hat ergeben, dass 45 % der Befragten aus unterschiedlichen Altersgruppen den Tschirgantbergsturz kennen. Dieser Anteil, der das Ereignis kennt, fühlt sich dadurch in keiner Weise (z. B. bei der Bauplatzwahl) negativ beeinflusst und wenn, dann eher in positivem Sinne, indem die Umfrageteilnehmer/innen in der Freizeit Spazierwege durch das Bergsturzgebiet nutzen. Ähnliche Resultate liefern die Fragen zur Risikowahrnehmung, da der Großteil der Befragten das Tschirgantmassiv als nicht gefährlich für die Ortsgebiete im Tal empfindet.

 

Auch wenn der Tschirgantbergsturz bereits 3.000 Jahre her ist und auf den Großteil der Befragten, wie auch wahrscheinlich auf den Großteil der Bevölkerung des Haiminger Gemeindegebiets keinen direkten persönlichen Einfluss ausübt, so ist es trotzdem wichtig, über unser Landschaftsbild Bescheid zu wissen und zu verstehen, dass die Natur mit all ihren Kräften etwas Einzigartiges ist. Gerade bei zukünftigen Projekten, sei es im kleinen oder großen Stil, sei es im Wohn- oder Liftbau, muss die Natur und deren Mehrwerte besonders im Hinblick auf die kommenden Generationen berücksichtigt werden.

Viele Theorien und offene Fragen

 
Die hier angeführten Angaben zum Alter sowie zur Ursache und zur Ausdehnung der Bergstürze vom Tschirgant sowie Haiming gehören zu einer von vielen möglichen Theorien. Seit den 2000er Jahren hat das Land Tirol viel investiert, um neue, fundierte Grundlagen zu erhalten. Dazu wurde das Bergsturzgebiet detailliert geologisch und hydrogeologisch untersucht sowie kartiert.

 

Auf Basis dieser Untersuchungen ergeben sich neue Erkenntnisse zu den möglichen Ursachen, Ausmaß und Alter der Bergstürze. Eine wesentliche Annahme ist, dass das Gebiet zur Zeit der Sturzereignisse vermutlich von Eis bedeckt war und eben diese Bedeckung zur großen Ausbreitung des Sturzmaterials geführt hat. Weiters werden ein wesentlich geringerer Tiefgang bzw. Mächtigkeit der Sturzablagerungen angenommen. Ein Hinweis darauf ist z. B. das Fehlen von Sturzblöcken bei der Böschung der Straßenmeisterei und bei der Deponie Fiegl. Diese lagern nur an der Oberfläche auf glazialen Sedimenten auf. Beim Haiminger Bergsturz wird ebenfalls eine wesentlich geringere Kubatur des Sturzmaterials angenommen. Auch das bisher angenommene Alter der Sturzereignisse – ca. 3.000 bis 3.500 Jahre – gilt nicht als gesichert. Es gibt Argumente, die für ein wesentlich höheres Alter der Bergstürze sprechen.

 

Das Thema bleibt jedenfalls spannend und es gilt abzuwarten, welche Erkenntnisse zu den Bergstürzen noch gefunden werden bzw. welche Auswirkungen diese auf unsere Gemeinde haben werden. Detaillierte Ergebnisse und Erkenntnisse zu den Bergstürzen sind auf der Website des Gemeindebuches nachzulesen.

Weiterführende Informationen zu den Bergstürzen vom Tschirgant sowie von Haiming finden Sie hier als pdf zum Download:

 

Bergsturz Haiming - Vorabzug der Neuaufnahme 2018

 

Tschirgant Bergsturz - Neue Erkenntnise vom Geoforum Umhausen 2014

 

Gernot Patzelt: Die Bergstürze vom Tschirgant und von Haiming
 

 

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