Kraftwerk, Windkanal und Lager

Das Mega-Kraftwerk der Westtiroler

 

Schon 1930 gab es nahezu fertige Pläne für ein E-Werk in Haiming. Die Realisierung scheiterte zunächst an der Finanzierung infolge der Weltwirtschaftskrise. Durch das NS-Regime standen die Zeichen für den Bau dieses Kraftwerks aber wieder günstig: Die deutsche Rüstungsindustrie benötigte ständig mehr Energie und die Kosten für Arbeitskräfte waren durch die Rekrutierung von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen gering.

 

Am 19. November 1940 wurde eigens für den Bau des Kraftwerks die Westtiroler Wasserkraft A.G. (WTK) gegründet. Stauseen bei Vent, Zwieselstein, der Amberger Hütte und Huben sollten alle Wasser des hinteren Ötztals fassen. Ein 24 km langer Stollen mit sechs Metern Durchmesser sollte das Wasser von Huben bis ins Nedertal, oberhalb Ötzerau leiten. Weiter durch den Amberg und noch im Berg in einem Druckschacht mit 530 Metern Gefälle in gewaltige Pelton-Turbinen in Ötztal-Bahnhof zur Stromerzeugung. Im Endausbau hätte das gesamte Stollensystem eine Länge von 140 km betragen, die Leistung wurde mit 834 MW berechnet, die Baukosten mit 780 Mio. Reichsmark (heutiger Wert: 2,5 Mrd. Euro).

 

1941 begann die WTK in Haiming mit Vermessungen, Grundaushebungen, Wege- und Barackenbau. Auch einheimische Arbeiter/innen fanden eine Anstellung – als Zimmermann, Schlosser oder im Büro der Baufirmen. Metzger und Bäckereien belieferten die Baustellen, der Kaminkehrer war für die Reinigung der vielen Koch- und Einzelöfen verantwortlich.

 

Windkanal „Forschungsprojekt „Inn 101“

 

Ebenfalls 1941 einigten sie die WTK und die LUFA (Luftfahrtforschung der deutschen Luftwaffe) über die Anbindung einer zu errichtenden Windkanal-Forschungsstelle. Die LUFA plante für die Grundlagenforschung an Düsentriebwerken den Bau des weltgrößten Windkanals, der im Inneren der Messstrecke mit acht Metern Durchmesser einen Sturm von 1.000 km/h entfachen sollte. Die hierzu nötige Energie berechnete man mit 76 MW und wollte sie im Direktantrieb analog zu einer Wassermühle erzeugen: Die Wasserkraft treibt ein Wasserrad und dieses direkt die Windflügel des Windkanals an.

 

Der Kostenanteil für die LUFA berechnete sich auf 24 Mio. Reichsmark (heute ca. 80 Mio. Euro) und erschien ihnen günstig. Für die WTK bedeutete diese Zusammenarbeit den immensen Vorteil der Aufnahme des Projektes in die „oberste Dringlichkeitsstufe“. Dadurch war die Weiterführung der Bauarbeiten auch bei kriegsbedingten Schwierigkeiten der Material- und Arbeitskräftebeschaffung gesichert.

 

Im September 1941 wurden erste Kaufverträge für die Grundstücke der Arbeiterlager auf dem Gelände „Beinkorb“ abgeschlossen. Dafür bediente sich die WTK der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft (DAG) mit „erfahrenen“ Aufkäufern. Es wurden 21,4 ha „erworben“. Mit den Teilwaldbesitzern ging man weniger geduldig um. Immerhin beanspruchte die WTK im Haiminger Gebiet 175 ha für das Kraftwerksprojekt. Versprochen wurde immer wieder: Nicht für den Bau des Kraftwerks benötigte Grundstücke werden später zum Rückkauf angeboten. Wer das nicht glaubte und nicht verkaufte, wurde nach dem RL-Gesetz enteignet (RL = Reichsleistungsgesetz – hiermit konnte der NS-Staat in der Kriegszeit alles von jedem beanspruchen). Die LUFA beanspruchte für die Errichtung des Windkanals weitere 28 Hektar Haiminger Gründe.

Das Lager „Beinkorb“

 

Am 28. September 1941 trafen die ersten 50 französischen Kriegsgefangenen ein. Sie wurden in einer mit Drahtverhau gesicherten Baracke im Lager Beinkorb untergebracht. Ende 1941 zählte das Lager Beinkorb bereits 470 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Für die Bauarbeiten viel zu wenig: Die WTK forderte im Januar 1942 bis zu 1.000 russische Kriegsgefangene an. Im April kamen die ersten 81 russischen Kriegsgefangenen – untergebracht in einer Baracke mit Drahtzaun, vier Scheinwerfern und neun Bewachern. Die Wachmannschaft des Lagers bestand aus 22 Mann: 19 Wachmänner und drei Gefreite.

 

Am 8. Mai 1942 wurde das Kraftwerksprojekt als nicht mehr „kriegswichtig“ eingestuft. Nur das militärische Forschungsobjekt Windkanal sicherte weiterhin den Fortbestand der Arbeiten in Haiming, im Nedertal und im Amberg.

 

1943 bestand das Lager Haiming aus 14 großen Baracken mit 1.000 Betten, drei Wirtschaftsbaracken (Küchen), vier Waschbaracken, einer Gewerbebaracke, einer Magazinbaracke und neun Klosettbaracken. Zusammen mit dem kleineren Lager am Amberg verfügte die WTK über 1.300 Betten für Arbeiter aus 13 Nationen. Deshalb musste am 1. Juni 1943 ein eigener Gendarmerieposten im Lager Beinkorb eingerichtet werden. Am 3. August 1943 erfolgte der Durchbruch am Ambergstollen, ein Jahr nach Beginn der Stollenarbeiten. 1944 erschlugen herabstürzende Gesteinsmassen zwei polnische Arbeiter – sie wurden auf dem Haiminger Friedhof beerdigt. Anfang 1945 wurden in einem letzten Akt der Verzweiflung nochmals 1.000 Arbeiter angefordert, „notfalls auch Häftlinge“. Am 1. Mai 1945 trafen unter SS-Bewachung 300 KZ-Häftlinge aus dem KZ Dachau ein. Es dürfte sich hierbei um Überlebende des grausamen „Todesmarsches“ gehandelt haben, mit denen Dachau geräumt werden sollte.

 

Das Kriegsende am 5. Mai 1945 bedeutet auch das Ende sämtlicher Arbeiten am Windkanal und den Stollenanlagen. Die bereits errichteten Teile der Forschungsanlage wurden von der französischen Besatzungsmacht demontiert, in Frankreich in Modane errichtet und in den 1950er Jahren in Betrieb genommen.

 

Das Lager Beinkorb wurde nun als Durchgangslager für die Heimreise ehemaliger Zwangsarbeiter genutzt und zählte am 10. September 1945 bis zu 1.200 sogenannter „Displaced Persons“. Die zum Bau des Windkanals ehemals beanspruchten Grundstücke gab die LUFA gänzlich zurück.

 

Für das Kraftwerk wurde 1950 eine erneute wasserrechtliche Bewilligung erteilt, der Bau jedoch nie ausgeführt. Die Planer entschieden sich für eine andere Variante mit dem Speicherkraftwerk Kühtai und der Ableitung zum Kraftwerk Silz mit Baubeginn 1977. 1972 pachtete Anton Schatz von der TIWAG das Gelände des ehemaligen Arbeiterlagers und errichtete darauf einen Campingplatz.

 

In sich über Jahrzehnte hinziehenden Verhandlungen gelang der Gemeinde Haiming und ehemaligen Grundstückseigentümern eine Rückabwicklung und Rückkauf vieler der ehemals im Auftrag der WTK für den Kraftwerksbau angekauften Grundstücke und Nutzungsrechte. Der Verkauf der sogenannten Beinkorbwiesen im Jahr 2016 durch die TIWAG an ein Industrieunternehmen ohne ein vorheriges Rückkaufangebot führte zu heftiger Kritik. Die Landesregierung beauftragte daraufhin 2017 eine Historikerkommission zur Erstellung eines Gutachtens als Entscheidungsgrundlage. Viele Betonfundamente und Stollenreste erinnern heute noch stumm an die „dunkle Zeit“.

Chronologie zum Kraftwerksprojekt „Inn 101“

 

29.05.1930

Vorstellung der Pläne eines Wasserkraftwerks mit Großspeicher Längenfeld.

 

19.11.1940

Gründung der WTK (Westtiroler Wasserkraft AG) zur Errichtung des Kraftwerks.

 

15.02.1941

Untersuchung der WTK über die Anschlussmöglichkeiten der Versuchsanlage = Windkanal.

 

27.03.1941

Längenfelder Stausee wird aus geologischen Gründen fallen gelassen. Er wird durch einen Plan mit mehreren Einzelkraftwerken ersetzt. Baukosten werden auf ca. 780 Mio. Reichsmark (heute ca. 2.600 Mio. €) geschätzt (Endausbauleistung von 834 MW).

 

02.04.1941

WTK und LUFA (Luftfahrtforschung der deutschen Luftwaffe) einigen sich über die Anbindung der Windkanal-Forschungsstelle an das Wasser der geplanten Kraftwerksanlage. Der Kostenanteil für die LUFA beträgt 24 Mio. Reichsmark (heute ca. 80 Mio. €) und für die WTK bedeutet es die Aufnahme des Projektes in die oberste Dringlichkeitsstufe.

 

01.06.1941

WTK beginnt in Haiming mit Grundaushebungen, Wege- und Barackenbau.

 

26.09.1941

Erste Kaufverträge für die Grundstücke des Arbeiterlagers auf dem Gelände „Beinkorb“ abgeschlos- sen. Die WTK nutzt dafür die DAG (Deutsche Ansiedlungsgesellschaft mit „erfahrenen“ Aufkäufern).

 

28.09.1941

50 französische Kriegsgefangene treffen ein und werden in einer mit Drahtverhau gesicherten Baracke untergebracht.

 

31.12.1941

Besichtigung eines Platzes in Haiming zwischen Riedern und Bahnhof zur Errichtung eines Auf- fanglagers für 1.200 russische Kriegsgefangene. Dieses Lager wird nicht gebaut. Das Lager „Beinkorb“ zählt 470 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.

 

09.01.1942

Die WTK fordert bis zu 1.000 russische Kriegsgefangene an.

 

20.01.1942

Wegen ständiger Querelen der Grundstückseigentümer erlässt Gauleiter Franz Hofer eine Genehmigung für „Bauen auf fremdem Grund“.

 

01.04.1942

Ankunft von 81 russischen Kriegsgefangenen; Unterbringung in einer Baracke mit Drahtzaun, vier Scheinwerfern und neun Bewachern. Die Wachmannschaft des Lagers besteht aus 19 Wach- männern und drei Gefreiten.

 

08.05.1942

Das Kraftwerksprojekt wird als nicht kriegswichtig eingestuft. Nur das Forschungsprojekt Windkanal sichert den Fortbestand der Arbeiten in Haiming, im Nedertal und im Amberg.

 

19.11.1942

Erteilung der wasserrechtlichen Bewilligung betreffs Stuibenbachwerk für die WTK.

 

15.05.1943

Lager Haiming: 14 große Baracken mit 1.000 Betten, drei Wirtschaftsbaracken (Küchen), vier Waschbaracken, eine Gewerbebaracke, eine Magazinbaracke und neun Klosettbaracken.

 

01.06.1943

Einrichtung eines eigenen Gendarmeriepostens im Lager.

 

03.08.1943

Durchbruch des Amberg-Stollens.

 

08.01.1944

Um weitere „Beschaffung“ von 700 Arbeitskräften wird gebeten.

 

19.03.1944

2 Tote durch Gesteinsschlag im Stollen; Beisetzung der Toten am Haiminger Friedhof.

 

28.01.1945

Nochmals wird um 1.000 Arbeitskräfte gebeten; „notfalls auch Häftlinge“.

 

10.09.1945

Im Lager Beinkorb sind 1.200 Polen untergebracht.