Das Flüchtlingslager in Haiming
Als Volksdeutsche wurden jene Minderheiten mit deutscher Herkunft/Muttersprache bezeichnet, die außerhalb Deutschlands ihre Heimat hatten – vor allem im Osten und Südosten Europas: Ungarn, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Rumänien etc. Sie wurden häufig als Donauschwaben und Siebenbürger Sachsen bezeichnet. Aufgrund ihrer Herkunft wurden sie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und mit der sich abzeichnenden Niederlage Nazi-Deutschlands zur politischen Zielscheibe. Sie wurden kollektiv verurteilt, zu Landesverrätern und Volksfeinden in ihrer Heimat erklärt. Sie wurden enteignet und vertrieben bzw. mussten flüchten.
Heimat auf Zeit von 1946 bis 1960
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das „Lager Beinkorb“ für Arbeiter, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zum Flüchtlingslager. Zwischen 1946 und 1960 fanden insgesamt rund 2.000 Menschen hier eine vorübergehende Heimat. Sie gehörten überwiegend zur Gruppe der Volksdeutschen, die ab 1944 zu hunderttausenden aus ihrer Heimat vertrieben worden waren.
Das unter den Nazis errichtete Lager Beinkorb südlich der Bundesstraße (heute: Standort Campingplatz und Firma Handl) diente als Lager für jene Arbeiter, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die am Kraftwerksprojekt und Windkanal arbeiten mussten.
Mit Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Lager nicht sofort aufgelöst, sondern diente den Arbeitern zunächst weiterhin als Unterkunft. Auch die großteils polnischen (Zwangs-)Arbeiter aus dem Lager Schlatt bei Oetz, das im Juli 1945 von den französischen Militärbehörden aufgelöst worden war, wurden nach Haiming umgesiedelt. Anfang 1946 entschieden die zuständigen Stellen, dass das Haiminger Lager in ein Lager für volksdeutsche Flüchtlinge umgewandelt werden sollte. Die polnischen Lagerbewohner mussten weichen, die volksdeutschen Flüchtlinge wurden vom 11. bis 15. März 1946 von Kufstein nach Haiming verlegt.
Am 15. März 1946 waren nach Abschluss der Übersiedlungsaktion 1.192 Volksdeutsche im Lager Haiming untergebracht.
Die Lagerverwaltung übernahm die französische Militärregierung. Lagerleiter war der französische Lieutenant Raymond Ghyoot von 1946 bis 1950. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Lager trotz aller Widrigkeiten bemerkenswert gut. Aus einer Ansammlung an Baracken entstand ein blühendes Gemeinwesen. Ghyoot hielt die Bewohner nicht nur zu Sauberkeit und Disziplin an, sondern regte auch kulturelle, sportliche und gesellschaftliche Aktivitäten an. Mit viel Fleiß und Arbeit machten die Lagerbewohner ihre bescheidenen Unterkünfte zu einem Zuhause. Darüber hinaus entwickelten sie ein sehr aktives Gemeinschaftsleben mit zahlreichen Vereinen, Schule, Kindergarten, Kirchen und vielem mehr.
Wege ins Lager
Die volksdeutschen Flüchtlinge gelangten auf unterschiedlichsten Wegen nach Haiming, gemeinsam hatten die meisten ein ähnliches Schicksal: Vertreibung, Kriegsgefangenschaft, Zwangsarbeit, monate- oder gar jahrelange Flucht. Viele waren bereits 1944 nach Österreich geflüchtet und hatten mehrere Stationen hinter sich. Ursprünglich war geplant, die volksdeutschen Flüchtlinge möglichst bald nach Deutschland weiterzuleiten. Wegen der Überfüllung der deutschen Lager, musste dieser Plan aber aufgegeben werden. Gerade die ersten Jahre im Lager Haiming waren von einem ständigen Kommen und Gehen geprägt.
Die Bewohner/innen des Lagers
Man geht davon aus, dass in Summe an die 2.000 Flüchtlinge im Lager lebten. Der Großteil von ihnen stammte aus Jugoslawien, gefolgt von Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn, Russland und Polen. Die volksdeutschen Flüchtlinge galten als staatenlos. Ihre rechtliche Situation besserte sich erst mit dem Gleichbehandlungsgesetz (1952) und dem Optionsgesetz (1954), mit dem sie relativ einfach die österreichische Staatsbürgerschaft erlangen konnten. Viele Flüchtlinge hatten jedoch schon vorher das Land verlassen. Im Lager lebten zeitgleich zwischen 1.000 und 1.200 Personen. Ab 1949 nahm diese Zahl kontinuierlich ab – auf 392 Lagerbewohner im Dezember 1955. 1956/57 kamen einige ungarische Flüchtlinge dazu. Im Oktober 1959 lebten nur mehr 139 Personen im Lager. 1960 wurde das Lager offiziell geschlossen, 1961 lebten noch 68 Personen in den Baracken, beim Großteil handelte es sich jedoch nicht mehr um Flüchtlinge. 1964 wurde nur mehr eine Baracke bewohnt, erst 1978 verließen die letzten Bewohner das Lager. 1982 wurde die letzte Baracke abgerissen.
Das Leben im Lager
Beim Einzug im März 1946 war das Lager in einem desolaten Zustand. Zugige Baracken, schadhafte Dächer, gesundheitsgefährdende Missstände etc. waren an der Tagesordnung. Die Baracken waren zwar bald gesäubert, aber es fehlte an Material für Reparaturen. Gerade in den ersten Nachkriegsjahren war beinahe alles Mangelware: Lebensmittel, Bekleidung, Heizmaterial, Strom etc.
In einer großen Baracke waren zunächst drei bis vier Familien untergebracht, erst Ende 1948 wurden die Baracken abgeteilt und kleine Wohnungen mit etwas mehr Privatsphäre geschaffen. Die sanitären Anlagen (Dusch- räume, WCs) waren zentral in einer eigenen Baracke untergebracht. Anfang 1949 gab es 17 Wohnbaracken sowie 18 Baracken für Verwaltung, Schule, Kindergarten, sanitäre Anlagen.
Erfindergeist
Lebensmittel waren gerade in den ersten Nachkriegsjahren sehr knapp. Im Winter 1947 warteten die Lagerbewohner sehnlichst auf eine Lieferung von Erdäpfeln. Als diese ankam, war sie leider unbrauchbar - beim Transport im offenen Waggon von Salzburg nach Haiming waren die Erdäpfel erfroren und begannen zu faulen. Kurzerhand ergriff Lagerleiter Ghyoot eine unbürokratische Hilfsmaßnahme: In einer illegalen Schnapsbrennerei wurden die Erdäpfel zu Schnaps gebrannt. Der Schnaps brachte pro Liter immerhin 100 Schilling ein. Mit dem Erlös kaufte Ghyoot– ebenfalls auf dem Schwarzmarkt – Erdäpfel für das Lager.
Grundversorgung
Zu Beginn wurden fast alle Bewohner von der Gemeinschaftsküche verpflegt, die tägliche Versorgung lag 1946 bei nur 1.000 kcal – erst gegen Jahresende wurde das Existenzminimum von 1.500 kcal erreicht. Im Laufe der Zeit besserte sich nicht nur die Versorgung mit Lebensmitteln, sondern konnten sich auch viele Lagerbewohner selbst verpflegen.
Die medizinische Versorgung der Lagerbewohner war gut. Es gab eine eigene Krankenstation, zwei Ärzte und zwei bis drei Krankenschwestern, ebenfalls volksdeutsche Flüchtlinge, kümmerten sich um die Patienten und konnten auch kleinere Eingriffe vornehmen. 1950 – mit Übernahme des Lagers durch österreichische Behörden – übernahm der Haiminger praktische Arzt Dr. Rudolf Alexander die medizinische Versorgung des Lagers.
Die hygienischen Zustände waren teils prekär. Generell stellten die gemeinschaftlichen sanitären Anlagen ein Problem dar und gerade in der kalten Jahreszeit war es schwer, die Körperhygiene zu erfüllen. Bekleidung und Schuhe waren ebenfalls Mangelware. Die Bewohner waren zumeist nur mit dem Notwendigsten geflüchtet. Nichtsdestotrotz schneiderten die Bewohner mit viel Fantasie und Kreativität aus Altem Neues: Decken wurden zu Mänteln, Blusen und Röcke aus Fahnen genäht, Abgetragenes wurde „gewendet“ – d. h. auf die andere Seite gedreht und neu vernäht. Rein äußerlich konnte man die Armut und Not der Lagerbewohner nicht erkennen, besonders die Kinder wurden sehr sauber und liebevoll gekleidet.
Kindergarten und Schule
Schon in den ersten Wochen des Lagers wurde ein Kindergarten eingerichtet, den in den ersten Jahren rund 80 Kinder besuchten. Auch eine Lagerschule öffnete gleich im März 1946 ihre Türen.
Die Kinder in Schule und Kindergarten unterschieden sich natürlich in ihrer Herkunft und auch in ihren jeweiligen Dialekten. Sie entwickelten jedoch eine gemeinsame Umgangssprache, ähnlich dem Hochdeutschen, und konnten sich so gut untereinander verständigen. Schule und Kindergarten beteiligten sich an vielen Veranstaltungen im Lager bzw. gestalteten sie zusammen mit verschiedenen Vereinen. So waren sie ein wichtiger Faktor für das Gemeinschaftsleben.
Lagerschule
Im Jahr 1946/47 lebten 240 schulpflichtige Kinder im Lager. Einige besuchten Schulen außerhalb des Lagers, z. B. die Hauptschule in Imst. Die anderen besuchten für zwei oder drei Stunden täglich die Lagerschule. Unterrichtet wurden sie von volksdeutschen Lehrerinnen und Lehrern aus dem Lager. 1950 wurde das Lager den österreichischen Behörden unterstellt, die Gemeinde wurde Schulerhalter. So konnten auch Kinder aus Ötztal-Bahnhof und Riedern die Lagerschule besuchen. Nach 10 Jahren Unterricht – 1956 – wurde die Lagerschule geschlossen. Mehr zur Lagerschule ist HIER zu lesen.
Religion und Kirche
Die Mehrheit der „Lagerer“ waren Christen, rund drei Viertel römisch-katholisch, der Rest evangelisch. Für beide Glaubensgruppen spielten Religion und Glaube eine wichtige Rolle. Der kirchliche Rhythmus, Gebete, Lieder und Messen gaben ihnen, die so viel verloren hatten, Halt. 1948 übernahm der katholische Pfarrer Johann Grieser die Lagerseelsorge. Er war selbst Volksdeutscher aus Batschka und hatte das Flüchtlingselend am eigenen Leib erfahren. Der charismatische Prediger unterrichtete auch Religion in der Lagerschule und galt als einflussreiche Persönlichkeit. Die katholische Lagerkirche war in einer großen Baracke für bis zu 500 Gläubige untergebracht. Der fehlende Kirchturm mit Glocke wurde nachträglich über Spenden finanziert und errichtet. Am 15. Mai 1949 fand die Einweihungsmesse statt, zelebriert vom damaligen Bischof Paulus Rusch – ein anerkennendes Zeichen für die Flüchtlinge. 1962 verließ Pfarrer Grieser als einer der letzten das Lager. Die Glocke des Lagers läutet heute noch in der Burschlkapelle in Roppen.
Auch die evangelische Gemeinde im Lager war sehr aktiv. Sie hatte um die 400 Mitglieder und feierte ihren Gottesdienst zunächst in einem Klassenzimmer der Lagerschule, dann in einem eigenen Raum in Baracke 22. Diese Kapelle und der später eingerichtete Jugendraum wurden zum Zentrum der evangelischen Gemeinde. Von 1948 bis 1950 gab es mit Pfarrer Gustav Kelp einen evangelischen Seelsorger. In Zeiten ohne eigenen Pfarrer sorgte vor allem der engagierte evangelische Religionslehrer Daniel Diehl für einen engen Zusammenhalt in der evangelischen Gemeinde.
Beschäftigung und Arbeit
Im Lager selbst fanden zwischen 70 und 90 Personen Arbeit, z. B. in der Lagerverwaltung, in den offiziellen Betrieben oder auch als Selbstständige, die über eine Ausnahmeregelung arbeiten durften. Friseur, Schuster, Damen- und Herrenschneider, Kantine und Fotograf, Sandalenmacher, Korbflechter, Schlosser etc. – um nur einige zu nennen. Sie arbeiteten für die französische Armee, später für die Lagerbewohner und bald auch für die Dorfbewohner von Haiming. Viele Lagerer mussten sich jedoch außerhalb einen Arbeitsplatz suchen. Im Dorf Haiming fanden sie z. B. bei Schneidermeister Witting, der Metzgerei Raffl und der Gärtnerei Etschmann eine Beschäftigung. Da viele Flüchtlinge selbst Bauern waren, arbeiteten auch viele bei Bauern oder in privaten Haushalten. Die Saisonabhängigkeit der Landwirtschaft war ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit in den Wintermonaten. Im Juni 1947 waren 198 Beschäftigte in verschiedenen Tiroler Betrieben gemeldet. Ab Jänner 1948 sorgte eine neue Verordnung für eine starke Benachteiligung der Volksdeutschen gegenüber einheimischen Arbeitskräften. Erst mit dem Gleichbehandlungsgesetz von 1952 wurde die Arbeitssuche wieder etwas erleichtert. Allerdings hatten viele schon vorher das Land verlassen, um in anderen Nationen ihr Glück zu suchen.
Beeindruckende Infrastruktur, Gemeinschaftsleben und Vereine
Das Lager hatte für damalige Verhältnisse eine beeindruckende Infrastruktur. Neben Schule, Kindergarten, Kirche, Vereinen etc. gab es ab 1949 auch ein Kinderheim für elternlose Kinder. Es standen ein Musikraum mit Klavier, Radio und Spielen, eine Bibliothek mit 400 Bänden, ein Kino- und Theatersaal und vieles mehr zu Verfügung. Das rege Gemeinschaftsleben im Lager wurde von verschiedenen Vereinen getragen, gleichzeitig waren diese wiederum wichtige Faktoren im Prozess der Öffnung des Lagers nach außen bzw. der Integration der volksdeutschen Flüchtlinge. Viele Veranstaltungen und Bälle (z. B. Faschingsball, Silvesterball etc.) wurden im Lager gefeiert, zu diesen Veranstaltungen kamen auch viele aus Haiming und anderen umliegenden Dörfern.
Der Sportverein – „Die Weiße Elf“
Lagerleiter Ghyoot erkannte rasch die Begeisterung seiner Lagerbewohner für den Sport, aber auch dessen Bedeutung als sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Er unterstützte die „Lagerer“ auf vielfältige Art in ihrem sportlichen Engagement, z. B. bei der Errichtung eines Fußballplatzes. Trotz etwaiger Proteste aus der Haiminger Bevölkerung wurde das Gelände in der Oberen Gmua unter großer Kraftanstrengung zum Fußballplatz planiert – dort, wo sich noch heute der Haiminger Fußballplatz befindet.
Schon am 14. Juli 1946 (französischer Nationalfeiertag) konnte der Fußballplatz mit einem Fest und natürlich einem Fußballspiel eröffnet werden. Innerhalb kurzer Zeit bildete sich im Lager eine Fußballmannschaft – die legendäre „Weiße Elf“. Sie spielte zunächst gegen andere Mannschaften aus anderen Lagern, aber auch gegen Mannschaften der Besatzung und aus umliegenden Dörfern. Ihr Können und ihr Einsatz verhalfen der Weißen Elf bald zu Anerkennung, auch unter den Einheimischen. Die Spiele wurden zu gesellschaftlichen und sportlichen Ereignissen. Um auch bei Meisterschaften teilnehmen zu können, wurde im Juli 1948 der Sportverein Ötztal gegründet. Nach außen wurde er von sportbegeisterten Einheimischen vertreten, hinter den Kulissen hatten deren Stellvertreter aus dem Lager aber die Vereinsleitung inne.
Die Weiße Elf gewann 1949 nach 16 ungeschlagenen Spielen sogar die Herbstmeisterschaft der 2. Klasse Oberland. 1951 konnte die Lager-Elf in die Landesliga aufsteigen. Die beginnende Auflösung des Lagers hatte aber auch auf den Verein Auswirkungen, Spieler und Funktionäre wanderten aus. Acht Jahre nach der Vereinsgründung des SV Ötztal wurde daher ein Zusammenschluss mit dem SV Haiming beschlossen. Somit bildet der Lager-Sportverein einen Grundstein für den heute als Gesamtsportverein Haiming agierenden Sportverein unserer Gemeinde. Weitere Sportarten im Lager: Damen-Handball, Tischtennis, Leichtathletik, Eishockey und sogar Schilauf.
Auflösung des Lagers
Der Großteil der ehemaligen Lagerbewohner verließ im Laufe der Jahre ihre „Heimat auf Zeit“, manche blieben in Haiming, gründeten eine Familie und schufen sich eine neue Existenz. Vor allem in Ötztal-Bahnhof siedelten sich viele der ehemaligen Flüchtlinge an. Das Lager wurde offiziell im Jahr 1960 aufgelöst, dennoch wohnten noch weiterhin Menschen in den Baracken. Die letzten verließen erst 1978 das Gelände. Auch noch in den 2000er Jahren gab es Treffen der Lagerer, besonders Willi Heidinger hat sich um die Organisation dieser Zusammenkünfte bemüht.
Über das Leben im Lager hat Elisabeth Salvador-Wagner das beeindruckende Buch „Heimat auf Zeit“ geschrieben, das für dieses Kapitel als wichtige Quelle diente.
"Heimat auf Zeit" - Das Buch von Elisabeth Salvador-Wagner