"Magsch a Würschtl? I it!"
Hermann Raffl (Buebelers) erzählt vom Leben in den Neunzehn-Zwanziger- und Dreißigerjahren. 1988 von Chronist Karl Hofer festgehalten.
Buebelers Hermann ist als zweiter von drei Söhnen 1916 in Haiming geboren. Die Eltern betrieben eine kleine Landwirtschaft mit 2 bis 3 Stück Vieh und einigen Äckern. Es reichte für den Eigenbedarf an Lebensmitteln. Um zusätzliches Geld zu verdienen, hatte sein Vater das Glück, als Gemeindediener angestellt zu werden. Damit konnten die notwendigen Barauslagen für die Familie und das Anwesen gedeckt werden. Freilich, für Luxus wie Zeitung, Fleisch am Werktag, Radio, Reisen, Ausgehen essen, neue Möbel, Fahrzeuge, mehr Kleider als nötig (Werktagsgewand, Sonntagsgewand und Feiertagsgewand) war kein Geld da.
Bittere Not wie Hunger, Verlassenheit, gab es selten. Die Dorfbewohner waren in ihrer Familie oder Verwandtschaft versorgt. Wer nicht im Hause wohnte, dem wurde im Notfall Essen zugetragen oder Pflege gewährt. Wer gar kein Zuhause mehr hatte, konnte im Armenhaus, im „Kloster“ leben. Hier walteten und sorgten die Barmherzigen Schwestern Tolentina und Agnes, die außerdem noch in der Volksschule unterrichteten. Im Kloster gab es eine Männer- und eine Weiberstube, in der man schlief und wohnte mit Kartenspielen, Ratschen, Lesen, Pfeife rauchen, Handarbeiten und Beten. Verschuldetes Elend entstand meistens durch Saufen; das gab es auch im Dorf.
Für ein Studium der Kinder war selten Geld vorhanden. Für besonders helle Köpfe sorgte der Pfarrer oder ein Gönner oder der Vater der Bettelstudenten, Bruder Willram, mit Kostplätzen in Innsbrucker Familien. Und viele gute Köpfe blieben zum Gemeinwohl dem Dorf erhalten.
Für Hermann gab es schon zur Schulzeit allerhand Arbeit im Haus, am Feld, im Wald. Man musste auch aushelfen beim Anbau und bei der Ernte und konnte schon früh manchmal dabei etwas verdienen in Ware oder Geld. Hermann musste auch oft „Einkaufen“ gehen, zum Krämer. Man brauchte Zucker, Salz, manchmal Weißbrot und Petroleum (Elektrifizierung 1924). Weil man aber kein Geld fürs Einkaufen hatte, schickte man die Kinder mit Eiern, Butter, Graukäse zum Kaufmann zum Eintausch.
Mädchen taten dieselben Arbeiten wie Buben. Besonders bei der Heu- und Grummeternte brauchte man die Kinder notwendig. Dabei gab es eine bessere Marend als sonst. Nach dem Ausschulen fand Hermann beim Wasserbau zwischen Schlierenzau und Magerbach Arbeit. Am „Boyen“ musste für den Waal ein längeres Gerinne betoniert werden. Man arbeitete in drei Schichten. Hermann machte Nachtschicht von 22 bis 6 Uhr. Während einer Schicht mussten 16 Mischungen zu fünf Gratten gemacht werden. Für die Schicht wurden zwei Schillinge Lohne bezahlt (eine einfache Mahlzeit im Wirtshaus kostete zwischen 50 Groschen und einem Schilling).
Manchmal gab es auch Aufräumungsarbeiten bei Murabgängen über die alte Bundesstraße von Magerbach nach Imst. Die Leute sahen es gern, wenn Muren abgingen, das gab Arbeit. So entstand der Name „Goldmure“.
Zwischen 1933 und 1936 wurde im Haiminger Föhrenwald ein Erholungsheim vom Bund der Jungtiroler erbaut. Das Objekt wurde auf billigstem Grund im Felssturzgebiet errichtet. Da gab es lange Zeit Erdarbeiten, und Felsen wurden von Hand abgegraben. An die dreißig Männer erhielten hier Arbeit, einige kamen auch vom „Österreichischen Arbeitsdienst“ dazu. Die Geldmittel brachte Kooperator Knittl aus Absam auf; er beauftragte Franz Stigger aus Haiming als Bauführer. Baumeister war Herr Flür aus Innsbruck. Auf ähnliche Art entstanden Erholungsheime in Maurach am Achensee und in Tarrenz.
Hermann Raffl fand hier drei Jahre lang Arbeit als Handlanger. Diese verdienten pro Tag 50 Groschen. Hermann konnte nach einiger Zeit durch zusätzliche Hilfsdienste bei der Werksküche sich dort das Mittagessen verdienen. Hermanns Mutter war froh, daheim einen Esser weniger zu haben. Selbstverständlich lieferte Hermann seinen Verdienst daheim ab. Unter diesen Verhältnissen war natürlich an die Gründung einer eigenen Familie nicht zu denken. Im Bewusstsein, ein Habenichts zu sein, sagte man: „Huat auf — alls unter Dach!“
Nichts desto weniger vermochte Hermann mit 15 weiteren Kameraden eine lebenslustige Freizeitgemeinschaft zu bilden. Man legte wochenlang groschenweise zusammen, kaufte ein Fassl Bier und hielt daheim in der Stube ein kleines Fest. Jeden Abend ging man in Huangart. Besonders gerne kamen die Burschen in „Jocheles“ Stube. Dort waren sechs Mädchen zu Hause. Eine von ihnen wurde später Hermanns Frau. Die Eltern der Mädchen blieben auf, bis der letzte der Burschen heimging. Wenn es gar kein Ende nehmen wollte, pflegte eine Hausfrau zu ihrem Mann zu sagen: „laz gian mir schlafn. Damit die fremdn Leit hoamgian können.“
Bei solchem Huagart ging es immer lustig zu. Sehr beliebt waren Pfänderspiele, wobei es beim Pfandauslösen — außer dem beliebten Busslgeben — immer wieder zu neuen Überraschungen kam; etwa barfuß im Winter eine gewisse Runde im Dorf laufen zu müssen. Oder es wurde Karten gespielt: unkritisch Watten. Manchmal ging es auch um 50 Groschen, das war aber nur beim Preiswatten. Hatte man kein Geld, so wurde um eine bestimmte Anzahl Fisolen oder Türkenkerne gespielt. Die hatte man in kleinen Stoffbeuteln mitgebracht.
Vater Jocheles begleitete mit der Gitarre die Lieder. Es wurde immer viel gesungen. Beliebte Lieder waren: Da drent am Wald, Gruß aus Oberinntal, Dort wo der Ortler steht, Tirol isch lei oans, Wohl ist die Welt so groß und weit, Mein schönes Innsbruck, Der Wildschütz und Schützenlieder. Sieben bis acht Burschen kamen jeden Tag.
Vom Essen: Bei „Buebelers“ gab es zum Frühstück Hauskaffee (Malzkaffee mit Feigenkaffee), selbstgebackenes Brot und Butter. Bohnenkaffee manchmal. Er kam auf eigene Weise ins Haus. Ein einheimischer Schmuggler durfte in einem sicheren Versteck geschmuggelten Bohnenkaffee aus der Schweiz zwischenlagern. Buebelers Buben konnten sich ein kleines Taschengeld machen, wenn sie unbemerkt vom angekommenen Schmugglerauto Kaffeesäcke ins Lager brachten. Außerdem wurden auf diesem Wege manchmal aus undichten Säcken Bohnen verloren, ungebrannte oder auch gebrannte. Die Kinder sammelten nach dem Transport die verlorenen Bohnen vom Boden auf und brachten sie der Mutter. So gab es mitunter am Sonntag echten Bohnenkaffee.
Zu Mittag gab es häufig Krapfen mit Kraut, Weizen- oder Türkenmus mit Marmelade und Kompott aus Kloabirnen. Auch Birnenmehl wurde übers Mus gestreut. Der Rettenbacher in Ambach hatte eine wasserbetriebene „Boanstampfe“, in der Knochenmehl und Birnenmehl erzeugt wurde. Sehr gerne hat man auch Drucknudeln mittags gegessen, sowie Speck- oder Fastenknödel. Am Abend aß man meistens abgeschmelzte Salzkartoffeln mit Fugemilch, Buttermilch oder gestockter Milch. Speckknödel waren oft auch Sonntagsessen, allerdings vier bis fünf für jeden. Am Sonntag gab es auch Kaninchen oder Suppenhennen. Weinnudeln waren auch eine Sonntagsspeise. Fleisch, und zwar Schweinsbraten oder Schöpsbraten konnte man sich nur an hohen Festtagen leisten. Ein guter Schweinsbraten war die größte Weihnachtsfreude.
Außer Haus konnte Hermann nicht viel unternehmen. Freilich gab es am Kirchtag und im Fasching manche größere Tanzunterhaltung; und wenn man mit einem Mädchen ging, so musste man sich wohl auch einmal dort sehen lassen und dabei ein bissl was aufgehen lassen. Aber so mancher arme Bursch musste in seiner Verlegenheit zum Schatz sagen: „Magsch a Würschtl? I it!“
Der Dorfchronist: Karl Hofer
Quelle: Dorfblattl, Dezember 1993
Foto rechts: Hermann Raffl, vulgo "Buebelers"